Der Dammbruch – Eine Chronik
Am 5. Februar 2020 wählte die Thüringer CDU gemeinsam mit den Stimmen der AfD ein FDP-Mitglied zum Ministerpräsidenten. Der Tag ging als Dammbruch in die Geschichte ein. Es folgten Wochen des zivilgesellschaftlichen Protests und am Ende der Rücktritt des Ministerpräsidenten.
Wir haben den 5. Februar und die darauffolgenden Entwicklungen in unserer Chronik rekonstruiert. Für uns ist klar: Keine Zusammenarbeit mit Faschist:innen!
Mittwoch, 5. Februar 2020
7:05 Uhr
Der damalige SPD-Landesvorsitzende Wolfgang Tiefensee startet den Tag mit einem klaren Statement in Richtung Thomas Kemmerich. Der bot in einem Interview an, im Falle einer Wahl die SPD-Minister:innen im Amt zu lassen. Wolfgang Tiefensee macht deutlich, dass er und die SPD-Minister:innen für so eine Regierung nicht zur Verfügung stehen werden.
Die @SPDThueringen wird weder im Parlament noch in der Regierung einen MP von Gnaden der AfD unterstützen.#MPWahl #Thueringen
— Wolfgang Tiefensee (@WTiefensee) February 5, 2020
ab 9:00 Uhr
Unsere Parlamentarische Geschäftsführerin Diana Lehmann begleitet den Tag der Ministerpräsidentenwahl auf Instagram. Über den Tag verteilt seht Ihr dort alle Entwicklungen. Ein echtes Zeitzeugnis!
ab 10:30 Uhr
Am Vormittag des 5. Februar 2020 twitterte der Chef-Stratege der CDU Thüringen, die Kandidatur des FDP-Kandidaten sei eine „demokratische Selbstverständlichkeit“.
Da ist @bodoramelow unbedingt zuzustimmen: Eine Kandidatur von @KemmerichThL ist eine "demokratische Selbstverständlichkeit" – seine Wahl wäre es ebenfalls. https://t.co/68DuXqiKBj
— Karl-Eckhard Hahn (@KE_Hahn) February 5, 2020
Zuvor hatte er bereits am 2. Februar 2020 in einem Beitrag des European über die Folgen einer möglichen Mehrheit mit den Stimmen der AfD sinniert und die Skandalisierung einer solchen Wahl als „demokratisch fragwürdig“ bezeichnet. Den Artikel gibt es auch hier zum nachlesen:
ab 12:00 Uhr
In den ersten beiden Wahlgängen der Ministerpräsidentenwahl treten Bodo Ramelow (Linke) und Christoph Kindervater (AfD) gegeneinander an. Keiner von beiden erhält die nötige absolute Mehrheit.
Im dritten Wahlgang wird Thomas Kemmerich mit 45 Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt. Ramelow erhält 44, der Kandidat der AfD null Stimmen. Ein Abgeordneter enthält sich.
Kemmerich nimmt die Wahl um 13:26 Uhr an.
Öffentlich beteuert er, eine Minderheitsregierung aus CDU, FDP, SPD und Grünen formen zu wollen, die im Landtag allerdings auf die Unterstützung entweder durch die LINKE oder die AfD angewiesen wäre.
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Es finden erste Proteste vor dem Landtag statt. Die Proteste schwächen in den nächsten Tagen nicht ab und sorgen maßgeblich dafür, dass Kemmerich nach kurzer Zeit zurücktritt.
Demos heute:
15.20 Landtag, Erfurt
17.00 Theaterplatz, Weimar
18.00 Holzmarkt, Jena#noafd #MPWahl #Thueringen— Antonia (@dieGenossin) February 5, 2020
13:45 Uhr
Nach der Ernennung des Ministerpräsidenten gibt es für gewöhnlich die Möglichkeit der Gratulation.
Was unser Fraktionsvorsitzender Matthias Hey in diesem Moment gedacht hat und was er Thomas Kemmerich ins Gesicht gesagt hat, könnt Ihr hier hören:
13:56 Uhr
In den Stunden nach der Wahl gibt es jedoch auch Politiker:innen, aus dem demokratischen Spektrum, die den neuem Ministerpräsidenten zur Wahl gratulieren und die Wahlgemeinschaft aus CDU, FDP und AfD als Mitte bezeichnen. Christian Hirte muss auf Drängen von Angela Merkel als Ostbeauftragte der Bundesregierung daraufhin am 8.2.2020 zurücktreten.
Herzlichen Glückwunsch @KemmerichThL! Deine Wahl als Kandidat der Mitte zeigt noch einmal, dass die Thüringer RotRotGrün abgewählt haben. Viel Erfolg für diese schwierige Aufgabe zum Wohle des Freistaats #Thüringen!
— Christian Hirte (@ChristianHirte) February 5, 2020
Auch die Bundespolitik reagiert kurz nach der Wahl auf den Dammbruch in Thüringen.
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Ich schätze Thomas #Kemmerich persönlich. Ich verstehe seinen Wunsch, #Ministerpräsident zu werden. Sich aber von jemandem wie #Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel & unerträglich. Es ist daher ein schlechter Tag für mich als Liberale. #Thüringen #Thueringen
— Marie-Agnes Strack-Zimmermann (@MAStrackZi) February 5, 2020
Heute ist ein guter Tag, um in die @spdde einzutreten. Denn auf Teile von #CDU und #FDP ist anscheinend nicht wirklich Verlass, wenn es um die Abgrenzung gegenüber Rechtsextremisten und den Schutz des Parlamentarismus geht. Auf die @spdde ist Verlass.#Thueringen
— Boris Pistorius (@borispistorius) February 5, 2020
Für den Fall von Neuwahlen verspreche ich dir, @WTiefensee, einen Bus voller hochmotivierter Saar-GenossInnen, die mit Dir Wahlkampf gegen die unmoralischen Paktierer machen. @SPDThueringen
— Anke Rehlinger (@AnkeRehlinger) February 5, 2020
https://twitter.com/HeikoMaas/status/1225042785440600064?s=20
What happened in #Thuringen is totally unacceptable. My response? Not in our name! pic.twitter.com/tdOgl2nN60
— Guy Verhofstadt (@guyverhofstadt) February 5, 2020
ab 16:00 Uhr
Nach der Wahl des Ministerpräsidenten waren es auch für das bisher geplante Regierungskabinett Stunden der Ungewissheit.
Die damalige Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium Valentina Kerst erzählt in ihrer Sprachnotiz was sie in den Stunden nach der Wahl erlebt hat. Hört gerne rein!
ab 18:00 Uhr
Nicht nur in den Thüringer Städten formiert sich schnell der Protest auf der Straße, in ganz Deutschland gehen Menschen auf Demonstrationen und machen deutlich, dass die Wahl Kemmerichs ein Dammbruch war. In Berlin finden Demonstrationen vor der Parteizentralen der CDU und FDP statt.
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19:45 Uhr
Die Kemmerich-Wahl wird auch zu einer Zerreißprobe für die CDU. Die damalige Parteivorsitzende macht noch am Abend des 5. Februar deutlich, dass keine CDU-Minister:innen in eine von Kemmerich geführte Regierung eintreten werden.
Das Präsidium der @cdu ist einstimmig meiner Linie gefolgt: Keine CDU-Minister in einem "Kabinett Kemmerich", keine Zusammenarbeit mit der AfD.
Am besten sollten die Wählerinnen und Wähler in Thüringen erneut die Wahl haben.— A. Kramp-Karrenbauer (@akk) February 5, 2020
Die CDU-Fraktion erklärt in ihrer Pressemitteilung derweil: „Die CDU-Fraktion ist nicht dafür verantwortlich, welche Kandidaten andere Fraktionen aufstellen und wie Abgeordnete des Thüringer Landtags aus anderen Fraktionen abstimmen. Wir haben vor und nach der Landtagswahl zugesichert, keiner Regierung unter Beteiligung der LINKEN oder der AfD ins Amt zu verhelfen und Rot-Rot-Grün abzulösen.“
- Das ganze Statement gibt es hier zum nachlesen:
https://www.cdu-thueringen.de/aktuelles/2020/erklaerung-zur-wahl-des-ministerpraesidenten-thomas-kemmerich
20:15 Uhr
Im ARD-Brennpunkt spricht der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD über den Plan, wie man die demokratischen Parteien reingelegt hat und dieser mit der Wahl Kemmerichs gelungen ist. Die Schadenfreude der Demokratieverächter ist ihm ins Gesicht geschrieben.
Falls es noch Zweifeler gibt: pic.twitter.com/Qq9Kmi5vmi
— Joachim Hochmuth (@j_hochmuth) February 5, 2020
Donnerstag, 6. Februar 2020
Die Presselandschaft in Deutschland beschäftigt sich mit dem Dammbruch in Thüringen.
„Kein Fußbreit dem Faschismus!“ – Ein klares Statement an der Parteizentrale der SPD
https://twitter.com/larsklingbeil/status/1225387864445325312?s=20
Wolfgang Tiefensee im Interview mit dem Tagesspiegel: Er macht deutlich, dass die SPD für rasche Neuwahlen kämpft.
Freitag, 7. Februar 2020
Das Bündnis Unteilbar ruft zu einer Demonstration am 15.2.2020 in Erfurt auf, um deutlich zu machen: Nicht mit uns!
https://twitter.com/dgb_news/status/1225755267826159616?s=20
Derweil fährt Annegret Kamp-Karrenbauer für eine Krisensitzung nach Thüringen. Die Fronten sind verhärtet. Kramp-Karrenbauer plädiert für Neuwahlen.
Samstag, 8. Februar 2020
Thomas L. Kemmerich gibt seinen Rücktritt als Ministerpräsidenten bekannt. Das sind die Reaktionen aus Thüringen:
Wir haben es gefordert, die Menschen auf der Straße haben es erzwungen: Jetzt endlich geht #Kemmerich den längst überfälligen Schritt, eine Selbstverständlichkeit. Dennoch gibt es keinen Grund zum Jubeln – der Schaden für das Land und die Demokratie sind immens.
— Wolfgang Tiefensee (@WTiefensee) February 8, 2020
Die SPD will unverzüglich #Neuwahlen und wird alles dafür geben, die Demokratie in diesem Land zu stabilisieren. Darum: #NeuwahlenJetzt
— Wolfgang Tiefensee (@WTiefensee) February 8, 2020
Montag, 10. Februar 2020
Annegret Kamp-Karrenbauer tritt als CDU-Vorsitzende zurück. Als Grund wir die Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen genannt.
Samstag, 15. Februar 2020
„Nicht mit uns“: Aufgerufen hat das Bündnis Unteilbar, gekommen sind mehrere zehntausend Menschen. Gemeinsam positionieren sie sich die 18.000 Teilnehmer:innen gegen Hass, Hetze, Faschismus und den Rechtsruck in der Gesellschaft.
Eine Bildersammlung des bunten Protestes gibt es hier: https://www.unteilbar.org/nichtmituns/
Jetzt schon Tausende auf dem Domplatz. Danke! #ef1502 pic.twitter.com/1KgW1CGvzI
— Wolfgang Tiefensee (@WTiefensee) February 15, 2020
18.000 Menschen! #ef1502 https://t.co/tHdpzJqYvR
— SPD Thüringen (@SPDThueringen) February 15, 2020
#nichtmituns Demo in #Erfurt DANKE an alle, die mit uns auf der Straße sind #thueringen #neuwahlen #Kemmerich #dammbruch pic.twitter.com/DjQqzzovfC
— SPD-Fraktion THL (@spdthl) February 15, 2020
Dienstag, 25. Februar 2020
Kemmerich das Phantom. In den Wochen nach der Wahl taucht der MP Kemmerich ab. Martin Debes sprach mit seinem engsten Mitarbeiter, der sagt: „Wenn man es richtig betrachtet, sparen wir dem Land einen Haufen Geld!“, ruft Reiter und lacht laut, als habe er einen richtig guten Witz gerissen.
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„Warum haben Sie das gemacht?“
…fragt „Die Zeit“ die CDU-Abgeordneten nach der Wahl mit der AfD. Die Antworten darauf sind aufschlussreich und zeigen, wie der Dammbruch in Thüringen organisiert wurde.
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In welcher Welt wird der Rechtspopulismus erfolgreich und was hat der Kapitalismus damit zu tun?
Mit „Autoritäre Versuchungen“ legt Wilhelm Heitmeyer ein Buch vor, in dem er erklärt wie ein „autoritärerer Kapitalismus“ im neoliberalen Gewand den Aufstieg des Rechtspopulismus erst möglich machte.
Philip Manow fragt, warum in Teilen Europas der Linkspopulismus und in anderen Teilen der Rechtspopulismus stark wird.
Zentral ist für ihn auch die Frage warum der Rechtspopulismus ausgerechnet Ostdeutschland, aber auch Bayern und Baden-Wüttemberg erfolgreich werden konnte. In die „Politische Ökonomie des Populismus“ legt er eine Sozialgeografie vor, die Begründungen bietet, die bis dato in der Wissenschaft eher unbeachtet geblieben sind.